Die Zeit ist merkwürdig. Sie ist unfassbar, nicht zu speichern oder gar aufzuheben[1]. Ihr Verständnis wandelt sich im Kleinen wie im Großen als Teil unseres Geschichtsverständnisses. Die Frage wie Zeit in früheren Zeiten wahrgenommen wurde lässt sich nur schwer beantworten. Ich werde im folgenden Artikel den Versuch unternehmen einige Denkansätze zu dieser Fragestellung vorzustellen.
Allgemeine Vermutungen
Allgemein können wir nur vermuten, das in biblischer Zeit (Altes und Neues Testament) das Zeiterleben und Verständnis der Menschen viel mehr mit dem Rhythmus der Natur[2] verbunden war, als dies heute der Fall ist. Unsere Wahrnehmung von Zeit wird dabei von vielen Faktoren, unter anderem auch psychologischen[3] und politischen, beeinflusst. Wo uns heute Uhren die Zeit bis auf die Sekunde genau jederzeit als Vorgaben verfügbar machen, brauchte es in früheren Zeiten schon für die Bestimmung des Monats Experten/innen[4]. Wo früher durch das Tageslicht die Arbeitszeiten vorgegeben wurden, können wir durch die für uns heute selbstverständliche Nutzung moderner Beleuchtungen unabhängig vom Tageslicht leben. Behält man dies im Hinterkopf, kann man alle weiteren Unterschiede in der Zeit/Geschichtswahrnehmung der Menschen recht gut auf zwei Idealtypen reduzieren.
Die zwei Idealtypen
Als erstes will ich auf das Mythisch-zyklische Zeitverständnis eingehen.
Besonders gut lässt sich dies am Beispiel Ägypten und der Nilschwemme darstellen. Die Nilschwemme leitet dabei den Beginn des neuen Jahres ein. Die einzelnen Jahreszeiten innerhalb des Zeitrahmes von einer Nilschwemme zur nächsten werden mittels Mythen erklärt. Wir finden dieses Zeitverständnis im Alten Testament an vielen Stellen, besonders prägend im Richterbuch („Richter-Schema“, immer wenn…dann, eine Entwicklung zu etwas Neuem ist hier in keiner Form zu erkennen). Am besten lässt sich dieses Zeitverständnis als Tages-, Wochen-, Monats- oder Jahreszyklus in Kreisform darstellen. In der Form des Tages- und Wochenzyklus ist sie sogar theologisch in der Schöpfungserzählung verankert. Besondere Punkte des Kreises markieren dabei sich wiederholende Feste, denen häufig eine mythische Erklärung für Naturphänomene zugrunde liegt[5], oder im Falle Israel eine theologische Begebenheit zugeordnet wird.
Der zweite Typus ist das Geschichtlich-lineare Zeitverständnis.
Die Zeit hier lässt sich am besten als Linie darstellen. Es entspricht am ehesten unserem modernen Verständnis von Geschichte und Zeit als lineare Entwicklung: was einmal Vergangenheit ist wiederholt sich nicht in gleicher Form, die Zeit schreitet fort. Es findet seinen Niederschlag u.a. in den Annalen („Tagebücher der Könige“, vgl. 1.Könige 15,17) aus denen später u.a. die alttestamentliche Geschichtsschreibung entstand. Darin unterscheidet sich z.B. die Zeit der Königsherrschaft deutlich von der Herrschaft der Richter in der Richterzeit. Ein König besteigt den Thron, regiert und stirbt. Der Abschnitt Zeit, der von ihm geprägt war, ist damit Vergangenheit, es beginnt ein neuer Abschnitt, der in seiner Interpretation entweder an den vorigen anknüpft (z.B. 2.Könige 21,2 und 21,20) oder sich anders als selbiger entwickelt. Dies zeigt recht gut den Einfluss der politischen Verfasstheit einer Gesellschaft auf ihr Zeitverständnis. Erst vor dem Hintergrund dieses linearen Zeitverständnisses ist die Entwicklung eschatologischer Vorstellungen überhaupt möglich, wobei insbesondere im Alten Testament gilt, dass Eschatologie Wende der Zeit jedoch nicht Ende der Zeit ist. Bei beiden oben kurz skizzierten Arten der Zeitwahrnehmung handelt es sich nur um idealtypische Vereinfachungen. Freilich werden sie uns selten bis nie in Reinform (als Beispiel für die Mythisch-zyklische Zeitverständnis wird hier häufig Ägypten aufgeführt) begegnen. Besonders im Alten Testament begegnen uns Hinweise darauf, dass die Zeit hier als eine Mischform wahrgenommen wurde, welche Elemente aus beiden Modellen vereinigt. So haben wir die zyklische Wahrnehmung von Zeit, besonders stark in Gen 8,22: „Solange die Erde währt [wörtl. : „Alle Tage der Erde“], sollen nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“, jedoch auch Elemente linearer Zeitwahrnehmung, besonders z.B. im kleinen geschichtlichen Credo[6][7].
Zeit in den „Sprachen der Bibel“
Zur gleichen Zeit lässt sich die Zeitwahrnehmung anhand von Strukturen in Der jeweiligen Sprachen erkennen. Im Althebräischen ist eine klare Trennung zwischen „Gegenwart”, „Vergangenheit” und „Zukunft” im Gegensatz zur deutschen Sprache nicht ohne weiteres möglich und mit einem zyklischen(-mythischen) Zeitverständnis auch nicht unbedingt notwendig. Beim finiten Verb werden hier zwei Modi unterschieden, verteilt auf zwei Konjugationen, die häufig immer noch als „Perfekt“ und „Imperfekt“ bezeichnet werden. Das „Perfekt“ wird zur Beschreibung abgeschlossener Handlungen verwendet, das „Imperfekt“ bei unabgeschlossene, oder noch ausstehende Handlungen. Die beiden jeweiligen Consecutiva brechen jedoch inhaltlich mit dieser Bezeichnung, sodass hier heute oft andere Namen verwendet werden (Perfekt=A[fformativ]-K[onjugation], Imperfekt =P[räformativ]-K[onjugation] = PK-Cons/Narrativ). Jedoch gibt es auch außerhalb des Verbalsystems im Althebräischen viele Möglichkeiten Zeit sprachlich darzustellen. תעֵ ‘et ist im hebräischsprachigen Teil unserer Bibel 73-mal belegt. Es beschreibt dabei oft den Zeitpunkt/Zeitrahmen zu dem etwas Bestimmtes geschieht, z.B. in der Formel „in jener Zeit“. Häufig ist תעֵ (‘et) inhaltlich weiter bestimmt, so zum Beispiel in Amos 5,13:„Darum schweigt, wer klug ist, in jener Zeit, denn es ist eine böse Zeit“. Die Septuaginta (LXX) übersetzt dabei עֵת ‘et häufig mit καιρός kairos „Zeitpunkt“, „richtiger/günstiger Zeitpunkt“. Lediglich dreimal wird עֵת ‘et mit χρόνος als„Zeit“ übersetzt. Vergleichbar steht es mit der Verwendung des althebräischen Wortes יוֹם jôm „Tag“, z.B. in Gen 2,4. Der Plural (יָמִים jāmîm „Tage“) wird häufig verwendet um eine Zeitdauer darzustellen. Weiterhin gibt es noch die Begriffe דּוֹר dôr „Generation“ (z.B. in Jesaja 60,15), עַד ‘ad „Ewigkeit“ (z.B. Jes 26,4) und עוֹלָם ‘ôlām „unbegrenzte Zeitdauer / Ewigkeit“ z.B. Ex 12,24). Diese Begriffe werden in der Septuaginta, meines Wissens nach, ebenfalls häufig mit καιρός wiedergegeben. Der Begriff findet über die griechische Sprache Eingang in unser Neues Testament.
Zeit im Neuen Testament
Das Bild von Zeit und Geschichte lässt sich hier eindeutig nicht mehr einem der beiden obigen Idealtypen zuordnen. Jesus erste ZuhörerInnen waren Juden, er selbst in einem jüdischen Umfeld aufgewachsen. Jesus verwendete für seine Botschaft vermutlich die aramäische Sprache als Medium, später wird sie ins Griechische übertragen. Das Griechische des Alten Testaments weist daher viele für die Sprache ansonsten unübliche Konstruktionen auf, manche Begriffe werden anders verwendet. Ein zentraler Begriff für die Zeit im neuen Testament ist das Wort kαιρός. Es wird in den Schriften des Neuen Testament 79Mal verwendet. Es bezeichnet im Allgemeinen einen günstigen Zeitpunkt. Dieser Zeitpunkt liegt jedoch nicht mehr, wie im Buch Daniel, in weiter Ferne, sondern ist in zeitliche Nähe gerückt. Durch den Einsatz verschiedener Zeitenwechsel (Präsens, Futur, z.B. in der Johannes Apokalypse) wird dies verdeutlicht[8]. Insgesamt gehen die Texte des Neuen Testaments jedoch, ebenso wie die späten prophetischen Texte des Alten Testaments, von einem linearen Geschichtsverständnis aus. Dies zeigt sich insbesondere in der Erwartung vom nahenden „Reich Gottes“, welches als Ende der bis dahin bekannten mystischen Weltordnung dargestellt wird. Wann und wie dieses Ende eintritt bleibt jedoch Gott vorbehalten[9]. Einzig Jesu Auferstehung eröffnet schon einen Blick auf das Neue, ebenso der gesandte Heilige Geist. Sie eröffnen damit ein Spannungsfeld zwischen zukünftiger Verheißung und präsentisch bereits Empfangenem.
pb
Dieser Artikel erschien im Glockenturm der Kirchlichen Hochschule Wuppertal Bethel für das Wintersemester 2012/2013.
[1] Pratchett, Terry (2004): Der Zeitdieb. Ein Roman von der bizarren Scheibenwelt. München: Goldmann.
[2] Als Beispiele dafür seien kurz Psalm 104,19-23; Hiob 38,12.
[3] Levine, Robert (1998): Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit der Zeit umgehen. Zürich: Piper.
[4] Nach Stuckrad, Kocku von (2000): Das Ringen um die Astrologie. Jüdische und christliche Beiträge zum antiken Zeitverständnis. Berlin: Walter de Gruyter.
[5] Tag und Nacht Gen 1,4f., Wochenrythmus über den Schabbat Gen 2,2, Exodus 16,23-27; 34,21, der Jahresrythmus über die Festkalendar, z.B. in Exodus 23,14-18.
[6] Deuteronomium 26,5-9.
[7] Terminologie nach Gerhard von Rad, Das formgeschichtliche Problem des Hexateuch in BWANT 78, Stuttgart 1938.
[8] Kairos, Christus und der Einbruch in die Gegenwart in Biki 2/2012.
[9] Matthäus 24,36.